Agnes von Rannariedl

Im Osten schied ein grauer Streifen das schwarze Firmament von der Hügelkette. Es begann zu tagen. Da schien sich auf einmal die Erde zu bewegen. Eine wogende, unübersehbare Reiterschar tauchte am fernen Horizont auf. Das dumpfe Stampfen der Hufe dröhnte in den jungen Morgen. Aus dem Sturmgebraus klang das Rasseln der Waffen. Ein Madjarenschwarm auf flinken, struppigen Pferden jagte einher.
Die Sonne war inzwischen aufgegangen. Der Qualm eines brennenden Dorfes aber lag nun im Tal. Nur wenn der Wind hin und wieder ein Loch in den Rauchschwaden riß, waren die heranströmenden Reiter zu sehen. Ihr Weg war ein Marsch des Grauens. Rauchende Trümmer und zerstampfte Fluren ließen sie hinter sich. Wohin die Ungarnpferde ihre Hufe setzten, wuchs auf lange Zeit kein Halm mehr.
Kaum eine Handvoll Menschen entkam den Greueltaten. Sie konnten sich in die Berge retten. Dorthin wagten sich die berittenen Verfolger nicht. In der Ebene waren sie kampferprobt und schier unbesiegbar. Die Berggegenden aber mieden sie, darum blieb das Land im Norden der Donau vor den Madjaren verschont. Jahr um Jahr stieß en die Ungarnkrieger tiefer in das Deutsche Reich vor. Kaiser Heinrich sammelte ein riesiges Heer und konnte damit endlich ihrer Landnahme Einhalt gebieten. Er besiegte die Steppensöhne aus dem Osten und warf sie weit über die Grenzen des Reiches zurück. Viele der dunkelhäutigen Reiterkrieger mußten den Weg in die Gefangenschaft antreten. Der junge Recke Gernot von Rannariedl, der im Gefolge Kaiser Heinrichs gegen die Madjaren zog, verlor sein Herz an eine junge Ungarin, die als Geisel in die Ostmark geführt wurde. Es war die schöne Fürstentochter Agnes, die mit ihrem wallenden Schwarzhaar und den dunklen Augen die Blicke aller auf sich lenkte. Weil das Arpadenmädchen auch Gefallen an dem blonden Hünen Gernot fand, gab der Kaiser die Gefangene dem Rannariedler zur Frau. Sie zog mit ihm auf die Burg ins Rannatal. Dort wurde Hochzeit in aller Pracht gefeiert. Agnes aber litt immerfort an Heimweh. Sie konnte sich nicht an die fremde Umgebung gewöhnen, an die Berge, Walder und rauhen Winde. Ihre schönen Augen füllten sich mit Tränen, wenn sie von der Terrasse aus sah, wie die Boote auf der Donau ostwärts zogen. Gernot gelang es nicht, seine Frau auf andere Gedanken zu bringen. Im Frühling eilten Boten von Burg zu Burg und verkündeten die Schreckensbotschaft, daß die Söhne Arpads mit einem riesigen Reiterheer in der Ostmark eingebrochen seien. Der Kaiser ließ seine Reiter sammeln und stellte sich dem Gegner. Auch Gernot war in seinem Gefolge.
Die Kunde vom Anrücken der Madjaren versetzte Agnes in große Freude, hoffte sie doch, daß sie von den Kriegern ihres Volkes befreit werden würde. Oft stieg sie am Tag auf den Turm, um nach dem Ungarnheer Ausschau zu halten. Wegen ihres Verhaltens bezichtigten sie die Burgverteidiger des Verrates und verurteilten sie zum Tode. Agnes wurde enthauptet.
Auf dem Weg zur Schlosskapelle liegt der Stein eingefügt, auf dem sie gestorben ist. Der färbt sich jedes Jahr an ihrem Todestag rot. In der Nacht wandelt dann Agnes durch das Schloß und trägt in ihren Händen das abgeschlagene Haupt.


  
  
  
 
Die Gründer der Burg Rannariedl sind die Falkensteiner. Das erste Befestigungswerk bestand jedoch nur aus einem Turm. Im Laufe der darauffolgenden Jahrhunderte wurde es zur Burg ausgebaut. Die Falkensteiner waren ein hochfreies passauisches Lehensgeschlecht. Gegen Ende des 13. JH gerieten sie in Fehde mit ihrem Lehensherrn, dem Passauer Bischof. Sie unterlagen und verpfändeten ihm ihre Burg. Im Jahr 1357 ging sie ganz in den Besitz des Bischofs über. Nun war der Burg ein wechselhaftes Schicksal beschieden. Oftmals verpfändet und mehrmals verkauft, kam sie 1755 wieder in den Besitz der Passauer Bischöfe. Dort verblieb sie bis zur Aufhebung der weltlichen Herrschaft Passau 1803. Nun fiel die Burg an die Hofkammer, wurde verkauft und hat bis heute oftmals den Besitzer gewechselt.
Die Madjarenkriege fallen in die Mitte des 10. JH. Als Gründungszeit wird für die Burg aber das Jahr 1200 angegeben. Ob vorher ein Befestigungswerk auf dieser Höhe stand, wissen wir nicht.